Fotografie ist Leben

Mein Vater war Komponist und als junger Mann schon sehr anerkannt und erfolgreich. Auch er musste Soldat werden, hatte aber zunächst das Privileg, eine Militärkapelle leiten zu dürfen. Da er sich weigerte, in die Partei der Nazis einzutreten und so deren Misstrauen auf sich zog, musste er am 17. September 1942, dem Tag meiner Geburt, an die Ostfront. Er konnte mich kurz sehen. Sein letzter Wunsch war es, dass ich seinen Vornamen tragen solle. Schon drei Monate später verlor sich seine Spur in Stalingrad, er gilt von da an als vermisst.

Bomben fielen auf Köln, Mütter mit Kleinkindern wurden aus den Großstädten evakuiert. Meine Mutter entschied sich, mit ihren drei Kindern an den Bodensee zu gehen. Dort verstarb im Winter 1944 mein eineinhalb Jahre älterer Bruder an Diphterie. Ein Jahr nach Kriegsende – in einer Hungerphase – wies die französische Besatzung alle Personen aus, die nicht aus dieser Zone kamen. Aufgrund allgemeiner Wirren und familiärer Zufälle gelagten wir auf einen Bauernhof im Münsterland – einen Vorhof der Hölle, wie sich bald zeigte.

Eine Frau, die bei der Feldarbeit umfiel und einen Mann hatte, der wohl keinen richtigen Beruf erlernt hatte, war es wohl nicht wert, mit Ihren Kindern „am Essen gehalten zu werden“. Ich lernte Menschen zu fürchten; ich lernte, Menschen zu meiden; ich lernte, aus der Distanz Menschen zu beobachten.

Wir flohen vom Bauernhof und fanden im Dorf eine erbärmliche und baufällige Behausung. Wir besaßen nichts, aber wir hatten eigene vier Wände. Unser Status als Fremde, als Aussätzige änderte sich dadurch jedoch nicht.

Die Werke meines Vaters wurden im Radio gesendet und in Konzerten aufgeführt. Erste bescheidene Tantiemen-Gelder der GEMA setzten meine Mutter in die Lage, kleine persönliche Besitztümer aus unterschiedlichen Deponien zurückzuführen. So lernte ich meinen Vater kennen: in kleinen schwarz-weißen Fotos. Die vielen in Trauer und Bewunderung geführten Gespräche und Erzählungen der Familie über meinen Vater fanden ein visuelles Erscheinungsbild.

Meine Mutter hatte mit List einen Fotoapparat vor den Franzosen gerettet. Sie hielt in wenigen Fotos unseren Alltag fest, fotografierte Schönes und dokumentierte auf gemeinsamen Radtouren unsere neuen Eindrücke. Die Fotos faszinierten mich, weil sie Geschehenes so deutlich wiedergaben; sie überraschten mich, weil ich Details erst im Bild wahrnahm; sie irritierten mich, weil die fotografische Realität nicht mit meiner Erinnerungs- und Erlebniswelt übereinstimmte.

Mit zwölf Jahren griff ich selbst zur Kamera und machte Aufnahmen, die ich in der Natur gesehen und für ein Foto entdeckt hatte. Ich begann, sehr viel genauer meine Umwelt wahrzunehmen und selektiv zu betrachten. Mit Spannung begegnete ich meinen kleinen Bildwelten und entdeckte die Eigenständigkeit und Vielfalt von Formen und Organisationsprinzipien. Unbewusst begann ich, gestalterisch zu sehen. Vorsichtig begriff ich Motivinhalte. Mehr und mehr reflektierten Fotos meine ganz persönlichen Seherlebnisse, und im kleinen Kreis wurden sie auch von anderen verstanden. In einer depressiven und sprachlosen Zeit berührte es mich ungewohnt, mein Sehen und Empfinden anderen Menschen anzubieten und auch anvertrauen zu können.. Mein Wunsch war, in Gespräch und Austausch zu kommen und meiner Einsamkeit zu entfliehen. Ich bemerkte, dass ich beim Nachdenken über Bilder und beim Fotografieren in einen Dialog mit mir selbst kam.

Die Fotos von meinem Vater haben mir fast physisch die Bedeutung der Fotografie klar gemacht. In Jahren habe ich über das musikalische Werk einen immer differenzierteren Zugang zu meinem Vater gewonnen. Die Fotos von ihm gewannen für mich Tiefe. Im zuletzt erlebten Konzert wurden fünf Tanzlieder meines Vaters uraufgeführt. In diesen Liedern wurde er mir unbeschreiblich präsent, und er bot einen Blick in sein innerstes Selbstbefinden und Wesen. Dieses Ereignis hat mir die Sicherheit geschenkt, sein Sohn zu sein. Als er diese Lieder schrieb, wird er ein paar Jahre jünger gewesen sein als ich, der ich sie gehört hatte.

Fotografie erschließt sich vor allem durch Wissen und Erkenntnisse, die in langen Jahren durch Neugier, Auseinandersetzung und Anstrengung gewonnen werden. Beruflich habe ich mich für die Fotografie entschieden. Ich wollte sie, und über einen mühsamen Weg bin ich zu meinem Profil gekommen. Es hat Jahre gebraucht, um Klarheit darüber zu gewinnen, was Fotografie ist und welches Verhältnis ich zu diesem Medium habe. Sich ein Bild machen, von der Welt ein Bild zu gewinnen, sind für mich Formeln, die unabweisbar erscheinen. Fotografie ist ein herausragendes Identifikationsmittel. Man sieht, lernt, versteht. Man erkennt im Anderen sich und in sich das Andere. Fotografie fördert Sozialisation.

Fotografie ist ein wunderbares Passepartout, sich neue Welten zu erschließen. Mit Fotografie ist man in der Lage, Momente aus Raum und Zeit zu lösen und ihnen eine Gültigkeit zu verleihen, deren Dauer nicht messbar ist. Fotografie ist Dokument und Beleg – gestaltetes Leben.

Fotografie ist Leben – für mich.